Die soziale Frage in der Bildungspolitik

Ein Kind aus nicht-akademischem Haushalt opfert, wenn es sich anschickt, die Gipfel der Bildung zu erklimmen, seiner Zukunft die Herkunft, entfremdet sich mit jedem Schritt von der Familie, von seinem Milieu. Ein Akademikerkind hingegen verbleibt im vertrauten Umfeld. Vieles von dem, was wir Begabung nennen, erweist sich bei näherem Hinsehen als Effekt dieses Vertrautheitsvorschusses.

Mit diesen beiden Sätzen wischt der Berliner Schriftsteller und Soziologe Bruno Preisendörfer hunderte von Studien und Analysen über das Schulsystem vom Tisch, mögen sie noch so ambitioniert und von fortschrittlichen Gedanken getragen sein, indem er in den Fokus jedweder bildungspolitischen Debatte die soziale Frage rückt.

Hinter dem Begriff des „Vertrautheitsvorschusses“ verbirgt sich ein Arsenal an Techniken und Instrumenten zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ungleichheit, die mit bildungspolitisch gut gemeinten Maßnahmen, wie sie die Sozialdemokratie seit Jahren forciert, nicht nur nicht aufgebrochen sondern einzementiert wird. Wer sich um des sozialen Aufstiegs willen die Techniken der Maskierung zum Zwecke des Mitspielens innerhalb der hegemonialen Kultur erst mühsam aneignen muss, weil er diese eben nicht quasi sozial „vererbt“ bekommt, der wird diesen einmal erreichten Status, sofern er sich nicht eine kritische Distanz zur eigenen bürgerlichen Karriere erhält, an seine Kinder – unreflektiert – zu tradieren versuchen. Er wird zum Verteidiger der Ungleichheit.

Was lässt sich dagegen politisch tun? Ich zitiere nochmals Preisendörfer, aus einem bemerkenswerten Text, auf den ich in der deutschsprachigen Ausgabe von Le Monde Diplomatique gestoßen bin:

Für Menschen aus bürgerlichen und gebildeten Familien bedeutet das, sich im Zweifelsfall gegen die eigenen Herkunftsinteressen zu stellen. Und wem kann man das schon abverlangen? Die meisten Leute aus den kulturellen, akademischen und publizistischen linken Milieus sind eigentlich Geschmackslinke, Linkssein ist bloß ihr Lebensstil. Wenn es hart auf hart geht, zum Beispiel um das Beerben der Eltern oder das Einschulen der Kinder, kommen die schichtspezifischen Interessen wieder zum Vorschein.

Dieser von Preisendörfer angesprochen „linke Lebensstil“ manifestiert sich insbesondere auch in der sozialdemokratischen (und grünen) Bildungspolitik – und dies gilt wohl für Deutschland wie für Österreich gleichermaßen, also für jene beiden Staaten innerhalb der Europäischen Union, die noch über ein, wie die ÖVP zu sagen pflegt, „differenziertes“ Schulsystem verfügen.

Anstelle mit aller politischen Kraft und Verve gegen die Bastionen der politischen Reaktion im Lande anzukämpfen, hat die Sozialdemokratie ihre fortschrittlichen Konzepte in gesellschaftlichen Nischen umzusetzen versucht. Jahrelang wurden vor allem in Wien „elternverwaltete Kindergruppen“ aus dem SP-Kommunalbudget mitfinanziert und fortschrittliche Schulversuche etabliert, die zweifellos wunderbare Alternativen zum traditionellen System der Kindergärten und Schulen darstellen, aber eben nur für jene Sprösslinge, deren Väter und Mütter sich auf Grund ihrer sozioökonomischen Stellung erst im Stande sehen, derartige Modelle in Anspruch zu nehmen.

Unbestritten kann man hier entgegen halten, dass auf Grund der gesellschaftlichen Machtverhältnisse wirklich große Reformschritte, wie jene, die die Sozialdemokratischen Alleinregierungen in den 1970-er setzen konnten, gegenwärtig eben nicht möglich sind. Die „unfaire, menschenverachtende, die Chancengleichheit verweigernde Politik“ der ÖVP (© Johann Skocek) wusste, und weiß nach wie vor, die gemeinsame Schule der 10 bis 14jährigen zu verhindern.

Ich denke, dass es sehr wohl aber auch daran liegt, dass die Sozialdemokratie bzw. ihre Aufsteiger-Funktionärselite, bis auf wenige Ausnahmen, die bildungspolitischen Leitsätze der eigenen Programmatik („Jegliche Formen des öffentlichen Bildungssystems müssen unabhängig von der sozialen und wirtschaftlichen Ausgangssituation den Auszubildenden zur Verfügung stehen. Vermögen und Einkommen der Eltern dürfen ebenso wenig eine Rolle spielen wie die Muttersprache und individuelle Lernschwierigkeiten„) lediglich bei Sonntagsreden hervorholen, zur moralischen Erbauung ihrer selbst wie der ihrer Wählerinnen und Wähler, die, so wie sie, den gesellschaftlichen Aufstieg mehr oder weniger bereits hinter sich haben. Die Mehrheit der anderen aber, die aus sozioökonomischen Gründen Ausgestoßenen, die zu einem geringen Teil immer noch der Sozialdemokratie ihre Stimme geben, zu einem überwiegenden Teil bereits den rechten Dumpfbacken auf den Leim gegangen sind, liegen für die zur eigenen bürgerlichen Karriere distanzlos Gewordenen bereits außerhalb der politischen Wahrnehmung. Nähme man deren gesellschaftliche Interessenlage nämlich wahr und politisch ernst, dann müssten u.a. alle Schulversuche in Wien abgeblasen und die kommunale Finanzierung der Kindergruppen eingestellt werden.

Ein Beispiel unter vielen: In der Volksschule Wolfgang-Schmälzlgasse im 2. Wiener Gemeindebezirk gibt es zehn Klassen, davon drei sogenannte Mehrstufenklassen, wo die sechs- bis zehnjährigen Kinder gemeinsam unterrichtet werden, und, abgestimmt auf das individuelle Lerntempo jedes einzelnen Kindes, eine bestmögliche individuelle Förderung genießen. Die insgesamt rund 60 Kinder werden von neun Lehrerinnen betreut.

Eine großartige, vom Engagement der Leherinnen getragene Sache (ich weiß das, weil meine Kids dort zur Schule gingen), die leider einen zentralen Hacken hat: Beinahe alle Kinder in den Mehrstufenklassen kommen aus Akademikerfamilien ohne Migrationshintergrund, während sich in den sieben traditionell geführten Volksschulklassen (eine Lehrerin pro Klasse für jeweils rund 25 Kinder, fallweise Begleitlehrer) ausschließlich Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund finden, was der Bevölkerungszusammensetzung dieses Viertels des 2. Bezirks durchaus entsprechen dürfte. Selbstredend genossen die meisten Kinder, die in die Mehrstufenklassen gehen, vorher die liebevolle Fürsorge einer „elternverwalteten Kindergruppe„.

Was wäre die Alternative? Zweifellos ein Defensivprogramm, aber eines, das wesentlich mehr gegen soziale Ungerechtigkeit unternähme als die sozialdemokratischen Nischenprojekte, die an der systematischen Ungleichheit im bestehenden Österreichischen Schulsystem nicht rütteln. Nochmals der Soziologe Preisendörfer:

Um es am Bildungssystem zu veranschaulichen: Eine linke Haltung bedeutet, sich nicht mehr allgemein für gleiche Chancen für alle einzusetzen, sondern mit jakobinischem Trotz nur noch für die besonderen Chancen derer, denen die gleichen bislang vorenthalten blieben.

Das hieße also ganz konkret: Kein Geld mehr aus dem allgemeinen Budget für die Nischenprojekte, und – abgesehen von der „mit jakobinischem Trotz“ in Permanenz zu trommelnden politischen Forderung nach einer gemeinsamen Schule aller Kinder bis zum 14. Lebensjahr, die eine Ganztagsschule sein muss – möglichst viel Kohle in den Ausbau der bestehenden Strukturen buttern, also jene fortschrittlichen Elemente, die man bislang in Nischenprojekten umsetzte, zur Norm für die Regelschule machen. An sinnvollen Konzepten wird es mit Sicherheit nicht mangeln.

Lesetipp:
Bruno Preisendörfer: Das Bildungsprivileg: Warum Chancengleichheit unerwünscht ist (aus dem das Eingangszitat stammt)

Ein Kommentar zu „Die soziale Frage in der Bildungspolitik

  1. als „kind mit vertrauensvorschuss“ dankt dir die“geschmackslinke“ dafür, dass ich durch deine blogs auf dem laufenden gehalten werde.
    im übrigen bin ich zutiefst geschockt von der gegenwärtigen, politischen situation in österreich!
    mit „jakobinischem trotz“!
    trixi

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