Gretchenfrage

MARGARETE.
Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?
Du bist ein herzlich guter Mann,
Allein ich glaub‘, du hältst nicht viel davon.
FAUST.
Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut;
Für meine Lieben ließ‘ ich Leib und Blut,
Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.
MARGARETE.
Das ist nicht recht, man muß dran glauben!
FAUST. Muß man?

(Faust I, Marthens Garten)

Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ lässt Johann Wolfgang von Goethe das 14-jährige Gretchen den Dr. Faust fragen, und der antwortet ihr ausweichend, will er doch nicht über Religion sprechen mit dem Mädchen sondern ins Bett gehen mit ihr. Zugleich weist Fausts Umgang mit der Gretchenfrage jenen Weg, den die Aufklärung im Gefolge von Immanuel Kant seither immer beschritten hat. Nicht die Frage nach dem Glauben des Einzelnen stand im Mittelpunkt, sondern der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion(en) galt das Interesse.

Folgerichtig erkannte Ludwig Feuerbach die Religion als Projektion der unerfüllten Sehnsüchte des Menschen, und diesen Gedanken aufgreifend, formulierte Karl Marx:

„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“

Wenn sich aber in der Religion nicht das Wirkliche sondern das Abwesende manifestiert, das, was an Wärme in der kalten Wirklichkeit fehlt, und wenn gerade diese Wunschproduktion den Mehrwert der Religion ausmacht, dann müssen die Menschen nicht zur Religion verführt werden, sondern dann ist Religion ihr notwendiges, den Mangel ausgleichendes Bewusstsein.

Auch Sigmund Freud steht in dieser Tradition der Religionskritik. In seiner Schrift Die Zukunft einer Illusion aus dem Jahre 1927 erkennt er in den religiösen Vorstellungen „nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens“, sondern „Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche„, und dann hält er fest:

„Religionen sind sämtlich Illusionen, unbeweisbar, niemand darf gezwungen werden, sie für wahr zu halten, an sie zu glauben. Einige von ihnen sind so unwahrscheinlich, so sehr im Widerspruch zu allem, was wir mühselig über die Realität der Welt erfahren haben, dass man sie – mit entsprechender Berücksichtigung der psychologischen Unterschiede – den Wahnideen vergleichen kann. Über den Realitätswert der meisten von ihnen kann man nicht urteilen. So wie sie unbeweisbar sind, sind sie auch unwiderlegbar.“

Damit wäre eigentlich alles zur Gretchenfrage gesagt (vgl. ausführlich dazu: Vortrag von Konrad Paul Liessmann im Rahmen des Philosophicums in Lech 2007).
Dass sie dennoch wieder Hochkonjunktur erfährt, dass es kaum mehr ein Gespräch innerhalb des Freundes- oder Bekanntenkreises gibt, im Zuge dessen nicht irgendwann Themen wie Religiosität oder Esoterik gestreift werden, wobei der schon als entsorgt gedachte Bekenntniszwang sich wieder breit macht, noch dazu im vor-modernen Gewand, indem nicht der „Religiöse“ für seinen „Glauben“ sondern der „Nichtreligiöse“ für seinen „Nicht-Glauben“ zur Rede gestellt wird, und dass, korrespondierend mit diesem anti-aufklärerischem Diskurs, immer öfter gesellschaftspolitische Problem- und Fragestellungen in einem therapeutischen Jargon der Innerlichkeit abgehandelt werden, ist nicht nur nervtötend, sondern allmählich auch Ausdruck einer „Re-Theologisierung“ nicht nur des Politischen, sondern des Sozialen insgesamt.

Mit dem Ende der Geschichte (Francis Fukuyama), verstanden als Ende der Trost- und Sinnstiftungsfunktion von Geschichte nach 1989, begann sich die dadurch entstandene Lücke mit traditionellen Religionen, importierten Sinnwaren aus Ostasien und den Produkten der „psychogenen Wellnessindustrie“ (Konrad Paul Liessmann) wieder zu füllen.
Auffällig ist, dass in der Regel all jene auf Sinnsuche sich begeben, die den Verlust der Trost- und Sinnstiftungsfunktion von Geschichte nicht überwunden haben. Viele unten den ehemaligen postreligiösen Revolutionären der bürgerlichen Mittelschichten, die nach 1968 in der Neuen Linken und in den diversen K-Gruppen, später in der Öko- und Friedensbewegung und in Bürgerinitiativen ihr Engagement bekundeten, und dies immer im Bewusstsein taten, die gesamte Menschheit zu retten, und die heute realpolitisch bei den Grünen kuscheln, waren im Grunde immer mutlos, sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Und da die raison d’être der liberalen Gesellschaft, wie Rudolf Burger so präzise geschrieben hat, gerade darin besteht, „dass einem niemand sagt, was richtig und gut ist, und dass einem niemand vorschreibt, wie man sein Leben zu führen hat, solange man seinen Nächsten nicht schädigt“, dann lässt sich die Sehnsucht nach metaphysischen Dächern der ohne Halt zurückgelassenen vielleicht erklären.

Freilich, gegen esoterische und/oder religiöse Begriffswelten a la „weibliche Kraftfelder“, „spiritualistische Baumkräfte“ oder „Keltisches Urwissen“, gegen dieses Gebräu aus Irrationalismus, Weltverschwörung und Paranoia (völlig klar, dass an allem Bush und die Amerikaner schuld sind), kann man mit Argumenten nicht ankommen – und soll es auch gar nicht, es wäre reine Zeitverschwendung. Man soll sich nur nicht anstecken lassen, auch wenn man mit Theodor W. Adorno weiß, dass es eine „fast unlösbare Aufgabe ist, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen“.

Man muss die Ambivalenzen der Moderne, den ökonomischen Druck auf allen Ebenen und Ereignisse wie 9/11 aushalten ohne sich in Heilsversprechungen und Erlösungsphantasien zu stürzen, die doch nichts anderes sind als Selbstentmündigungen. Und im Großen und Ganzen gelingt uns das ja auch, oder?

Mein Gegenprogramm:
Um die Zumutungen und Ambivalenzen, die der Anderen und die eigenen, zu ertragen, bedarf es selbstverständlich individueller Entschleunigungsstrategien, zum Beispiel mit Freunden sudern und Bier trinken.
Also, sich verlieren – zumindest zeitweilig, und nicht etwas suchen, wo nichts zu finden ist! Und ab und zu sich daran erinnern, was Immanuel Kant im Jahre 1784, also fünf Jahre vor dem Sturm auf die Bastille, im fernen Städtchen Königsberg, aus dem er zeitlebens nie hinauskam, in seiner Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ geschrieben hat:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. ‚Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

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