Maschinenwinter

„Sterben müssen alle; es kommt nur drauf an, dass man vorher wenigstens einmal den Moment erwischt hat, an dem es gilt: Hau auf die Trommel, sag die Wahrheit, trau dich, zu lieben.“

„Es verhält sich dabei im Kulturellen wie mit der Industrie auf anderen Sektoren: je urtümlicher, agrarischer, zurückgebliebener das Ganze, desto Hungersnot, Schmutz und Stammeskrieg. Also auch: je weniger Fernsehen und Popmusik, desto Dorfpfarrer, Krippenspiel, Tabu und Scherbengericht.“

Der, der solche Sätze hinknallt, heißt Dietmar Dath, war SPEX-Chefredakteur, danach Feuilleton-Redakteur der FAZ, und lebt heute als freier Schriftsteller und Übersetzer. Der Suhrkamp-Verlag hat soeben das jüngste Werk des im Heavy Metal-Kino-Science-Fiction-Universum beheimateten Autors veröffentlicht, den Essay: „Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift„.

Hier ein Auszug aus den zweiten Kapitel („Moral„):

„Selbstverständlich ist eine Gesellschaft unanständig, in der jemand mehr Wohnraum besitzen als bewohnen kann und Behausungen also leer stehen, damit beim Finanzamt Verluste angegeben werden können, in deren Schatten anderswo, im Warmen, Feuchten und Unsichtbaren, große Gewinne gedeihen. Selbstverständlich ist eine Gesellschaft schweinisch, die einerseits für ihre Spitzensportler Laufschuhe mit eingebauten Dämpfungscomputern bereitstellt, andererseits aber alten Frauen mit Glasknochen die Zuzahlung zum sicheren Rollstuhl verweigert und einen Pflegenotstand erträgt, für den sich tollwütige Affenhorden schämen müssten. Selbstverständlich ist eine Gesellschaft obszön, in der Zahlungsmittelengpässe, Liquiditätskrisen und Bankenbeben vorkommen, weil, wie im Sommer und Winter 2007 geschehen, plötzlich deutlich wird, dass Kredite, die man armen Amerikanern aufgeschwatzt hat, damit sie sich Eigenheime kaufen, die sie sich unmöglich leisten können, tatsächlich nicht zurückgezahlt werden. Selbstverständlich ist eine Gesellschaft widerlich, die all diese Dinge sogar in ihren leidlich gepolsterten Gewinnergegenden zulässt; vom Elend der sogenannten Peripherie, will man eh nichts mehr hören.

Unanständig, schweinisch, obszön, widerlich: Davon rede ich nicht.
Moral ist Glückssache und setzt Deckung der wichtigsten Lebensbedürfnisse voraus; meistens hat man andere Sorgen. Ich rede aber davon, dass das alles nicht vernünftig ist und deshalb nicht funktionieren kann. Wer es sich kalten Herzens, wachen Auges anschaut und dann noch ruhig zu verneinen imstande ist, dass möglich sein muss, die Dinge besser einzurichten, ist nicht böse, sondern entweder faul genug, sich betrügen zu lassen, oder vom Geburtszufall ausgelost worden, die im Ganzen seltene, vorläufig aber noch ganz einträgliche Elendsgewinnlerei betreiben zu dürfen, an der dieses Ganze krankt.

Weil Unglück alle treffen könnte, sollten sie idealiter einander dagegen beistehen – das stand in dem Vertrag, den man Sozialstaat nannte. Er war ein Kompromiss zwischen einerseits denen, die ihren Reichtum mit Hilfe ihres Reichtums mehren, und andererseits denen, die nichts haben, was Reichtum schafft, sondern im glimpflichsten Fall ein bisschen Eigentum zum persönlichen Verbrauch.

Gelehrte räuspern sich, wollen mal eben den Grenznutzen der lebendigen Arbeit wissen und rechnen aus: 1 + 1 = 3 für sehr hohe Werte von 1. Man nennt das verniedlichend „Neoliberalismus“; es ist Voodoo: Irgendeine unbekannte Magie soll diesem lächerlichen Abrakadabra zufolge Unternehmen, deren Walten „dereguliert“, also keinen anderen Schranken als denen von Angebot und Nachfrage mehr unterworfen ist, mittelfristig bei über Angebot und Nachfrage ausgehandelten „fairen Löhnen“ zur Einstellung herumlungernder Unnützer animieren, damit nicht alles auseinanderfällt. In Wirklichkeit passiert das nirgends, wo die genannten Schranken fallen. Denn natürlich stimmt jeder Aufsichtsrat, dessen Mitglieder noch bei Trost sind, jederzeit für eine Beschäftigungs-, Innovations- und Rationalisierungspraxis, die den maximalen Profit erwirtschaftet, statt dafür, aufsässige Autobrandstifter aus der französischen Vorstadt mit attraktiven Aufstiegschancen zu bestechen, damit sie nicht wüten. Alle wissen das. Inzwischen gibt es selbst bei Ökonomen, denen nie einfallen würde, die bestehende Unordnung anzutasten, einen Namen dafür: jobless growth. Gemeint ist ein wirtschaftliches Kennzahlenwachstum, das keine Arbeitsplätze mehr abwirft.“

Hier noch Darth himself

So, und jetzt werde ich mir den Essay besorgen – danach vielleicht mehr …

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