Die Wahrheit einer falschen Welt

»Was ist der Preis der Lüge? Das wir die Lüge für die Wahrheit halten könnten? Die eigentliche Gefahr ist doch die: Wenn wir nur genug Lügen hören, erkennen wir die Wahrheit nicht mehr! (…) Die da oben glauben, eine gerechte Welt sei eine heile Welt.«

Noch wissen wir nicht, wer der Mann ist, der auf einem Stuhl in einer Küche sitzt, eine Zigarette raucht und diese Sätze in ein Tonbandgerät spricht, sodann die Bänder in Zeitungspapier hüllt und anschließend im Innenhof der Wohnhausanlage hinter einem kleinen Fenster versteckt. Wieder in der Wohnung zurück zündet er sich abermals eine Zigarette an, unser Blick fällt auf ein Taschentuch mit Blutsputum und auf eine Katze. Dann ein kurzer Ruck. Der Mann hat sich erhängt.

Mit dieser Szene beginnt die amerikanisch-britische HBO-Miniserie Chernobyl – fünf Teile, jeweils rund eine Stunde lang –, die im Mai/Juni 2019 von Sky Atlantic im deutschsprachigen Raum erstmals ausgestrahlt wurde, und die ich nun, dank C., der mir die Files zukommen ließ, sehen konnte.

Bald erfahren wir, dass es sich bei dem Mann um den Chemiker Waleri Legassow handelt, der sich am 26. April 1988 das Leben nahm, also auf den Tag genau zwei Jahre nach der Explosion des Reaktorblocks 4 der Kernkraftanlage in Tschernobyl. Am Unfalltag wurde er zusammen mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, Boris Schtscherbina, von Generalsekretär Michail Gorbatschow von Moskau nach Tschernoyl beordert, um die Sicherungsmaßnahmen vor Ort zu koordinieren. Später fungierte er als Leiter eines Komitees, das die Ursachen der Katastrophe untersuchen sollte.

Ein Test, der beweisen sollte, dass auch bei vollständigem Ausfall der externen Stromversorgung des Kernreaktors noch genügend Energie intern produziert werden könnte, um die Kühlsysteme weiterhin am Laufen zu halten, geriet zum Desaster. Die durch die Explosion in die Atmosphäre gelangten radioaktiven Stoffe kontaminierten infolge radioaktiven Niederschlags hauptsächlich die Region nordöstlich von Tschernobyl, und in vielen angrenzenden Ländern kam es zu einer erheblichen Strahlenbelastung. Nach der Katastrophe begannen sogenannte »Liquidatoren« mit der Dekontamination vor Ort, und um den offenen Reaktorkern, aus dem kontinuierlich Radioaktivität austrat, wurde bis November 1986 ein aus Stahlbeton bestehender provisorischer Schutzmantel gezogen, ein »Sarkophag«.

Legassows Untersuchungskomitee sollte später feststellen, dass zum einen Angestellte des Kraftwerks gravierend gegen Sicherheitsauflagen verstoßen haben – in einem Prozess wurde der für den Test verantwortliche Schichtleiter, Anatoly Dyatlov, wegen »kriminellen Missmanagements« zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt, nach fünf Jahren aus gesundheitlichen Gründen entlassen (1995 erlag er den Folgen eines Herzinfarktes); und zum anderen, dass der in Tschernobyl verwendete Kernreaktortyp für diese Simulation ungeeignet war. So wusste der Geheimdienst seit rund 10 Jahren, dass das Auslösen der Stopptaste zwangsläufig zur Explosion führen musste, ein Wissen, das aber unter Verschluss gehalten wurde. Gemäß KGB-Vorgaben durfte Legassow in seinem Bericht vor der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien darüber kein Wort verlieren. Einzig Dyatlov und die ihm unterstellten Mitarbeiter, die kurz nach der Explosion infolge der Verstrahlung verstorben sind, wurden der offiziellen Sprachregelung zur Folge als für den Unfall Verantwortliche ausgegeben. Dyatlov hat 1991, nach dem Ende der Sowjetunion, in einem Artikel die technischen Implikationen, die zur Katastrophe führten, offengelegt.

Erinnerungen können bekanntlich trügerisch sein: Ich dachte, der damalige SPÖ-Gesundheitsminister Franz Kreutzer hätte den 1. Mai-Aufmarsch in Wien behördlich verboten. Jetzt habe ich nachgelesen, dass er vor »Panik« gewarnt hat und wenig später für die Nichtabsage kritisiert wurde. Die radioaktive Wolke, die zunächst über Skandinavien – die Schweden waren die ersten, die Alarm schlugen – und dann südwärts zog, erreichte Österreich rund 80 Stunden nach der Explosion. Ich weiß, dass wir in den Tagen danach, als eine erhöhte Belastung von Cäsium-137 und Jod gemessen wurde, den amtlichen Empfehlungen, längere Aufenthalte im Freien zu meiden und die Fenster geschlossen zu halten, nachgekommen sind. Nach wie vor, mehr als 30 Jahre nach der Katastrophe, werden auch hierzulande erhöhte Werte an Cäsium-137 und Jod vor allem in Eierschwammerl und Wild nachgewiesen.

Ich kann mich auch an TV-Bilder von der Evakuierung der in der Nähe von Tschernobyl gelegenen Stadt Prypjat erinnern, wenngleich ich diese erst viel später gesehen habe. Die eigens für die Arbeiter des Kernkraftwerks und deren Familien errichtete Stadt wurde 36 Stunden nach der Katastrophe evakuiert. Mit etwa 1 200 Bussen sind die rund 80 000 Bewohner innerhalb von zweieinhalb Stunden weggebracht worden. Günstige Windverhältnisse verhinderten das Schlimmste: die stärkste Kontaminierung der Stadt durch radioaktive Niederschläge fand glücklicherweise erst in den Tagen nach der Evakuierung statt. Die Region rund um Prypjat ist bis heute eine vom Militär gesicherte Sperrzone, die seit 2011 für »Touristen« geöffnet ist. Wikipedia entnehme ich, dass auf Grund der HBO-Serie die Besuche in der Region um 30-40% zugenommen haben. Wir leben in einer Welt, in der alles verwertet wird.

Michail Gorbatschow hat angeblich einmal gesagt, im Grunde hätte Tschernobyl das Ende der Sowjetunion besiegelt. Der Film zeigt ein paranoides Machtsystem, basierend auf Kontrolle und Repression, eine Angstglocke, unter der die Beschönigung, Vertuschung und Lüge zum Normalzustand jedweder Existenz gehört. Wer in einem solchen System überleben will, kann in der Regel nicht Klartext reden, denn würde er dies tun, wäre er nicht mehr da.

Einige unvergessliche Szenen der Serie, die in der Bildsprache, an die großen Meisterwerke Andrei Tarkowskis erinnern:

Feuerwehrmänner, die unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe ohne Schutzkleidung völlig sinnlose Löschversuche mit Wasser vornehmen, krepieren wenige Tage danach unter entsetzlichen Schmerzen, ihre Körper sind von der radioaktiven Strahlung völlig entstellt. Die Toten werden in Metallsärge gesteckt und in Massengräbern beigesetzt. Unmittelbar nach der Beisetzungszeremonie wird aus den bereits wartenden Betonmischern Fließbeton auf die Särge gegossen, um diese mit einem Betonmantel zu versiegeln.

Krankenschwestern tragen die verstrahlte Kleidung der Feuerwehrmänner in den Keller des Krankenhauses, wo sie auf einen Haufen geworfen werden, der angeblich noch heute vorhanden ist. Die kurze Berührung der kontaminierten Kleidung verbrennt ihre Hände.

Das Zentralkomitee in Prypjat meldet in einer ersten Reaktion nach Moskau, es sei »alles völlig unter Kontrolle«. In der anschließenden Sitzung der Ortsfunktionäre der kommunistischen Partei im atomsicheren Bunker berichtet ein Funktionär von den Brandwunden der Feuerwehrmänner und fordert die Evakuierung der Stadt. Ein langjähriger Parteifunktionär erhebt sich, weist auf den offiziellen Namen des Kernkraftwerks hin, »Wladimir Iljitsch Lenin«, und sagt: »Und wenn der Staat uns sagt, die Situation sei nicht gefährlich, dann hören wir auf ihn. Wir riegeln die Stadt ab und kappen die Telefonleitungen. Das ist unsere Möglichkeit zu glänzen.« Das vermeintliche Lob des Moskauer Parteiapparats lässt die örtlichen Funktionäre begeistert applaudieren.

Erste Löschversuche mit einem Gemisch aus Sand und Bor, das von Hubschraubern auf den offenliegenden Reaktorkern abgeworfen wird – der erste Hubschrauber fliegt zu nahe zur Rauchwolke, die Strahlung zerstört die Systeme, die Maschine stürzt ab –, zeitigen erste Erfolge. Eine aufmerksame Atomwissenschaftlerin, die im Film stellvertretend für eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Experten steht, die zu Sicherungsmaßnahmen beigezogen wurden, erkennt, dass die Wassertanks – entgegen ersten Annahmen – vollgefüllt sind. Sollte Sand-Lava (durch die Hitze im Kern wird das Sand-Bor-Gemisch zu einem Lava-ähnlich Stoff) eintreten, käme es zur Erhitzung des Wassers und zu einer gewaltigen Folgeexplosion, die alle Reaktoren in Tschernobyl in die Luft fliegen ließe, mit unvorstellbaren Folgen: Die gesamte Ukraine und Weißrussland bliebe für immer unbewohnbar. 60 Millionen Menschen müssten evakuiert werden, weite Teile Osteuropas wären kontaminiert. Um das zu verhindern, müssen drei Kraftwerksmitarbeiter gefunden werden, die sich durch das kontaminierte Wasser bis zu den Schleusen vorarbeiten und diese öffnen, um das Wasser abpumpen zu können. Gorbatschow gibt den Befehl – im Film mit den Worten: »Jeder Sieg hat noch immer seinen Preis verlangt!« –, der den sicheren Tod der Arbeiter bedeutet.

Bergarbeiter werden geholt, um einen 150 Meter langen, 12 Meter unter dem Reaktorkern gelegenen Tunnel zu graben, zur Anbringung eines Wärmetauschers. Die Hitze beträgt 50 Grad. Wegen der Strahlung können keine Ventilatoren verwendet werden. Die Bergarbeiter arbeiten nackt. Im Abspann werden wir erfahren, dass von den rund 400 Bergarbeitern schätzungsweise 100 vor ihrem 40. Lebensjahr gestorben sind.

Die sowjetischen Behörden ersuchen deutsche Unternehmen, einen Roboter für die Räumung des radioaktiv verseuchten Schutts und der Graphitblöcke bereitzustellen. Da sie einen deutlich geringeren Strahlungswert weitergeben, ist der gelieferte Roboter der tatsächlichen Strahlenbelastung nicht gewappnet – die enorme Radioaktivität zerstört die Maschine. Jetzt müssen »Bioroboter« ran, also Menschen, die das strahlende Material mit Schaufeln vom Dach des Kontrollgebäudes in den Reaktorkern befördern, was für die »Liquidatoren« den sicheren Tod bedeutet.

Eine alte Bäuerin melkt ihre Kuh. Ein Soldat, der das verstrahlte Tier erschießen muss, fordert sie auf, wegzugehen. Die Bäuerin entgegnet ihm, dass sie seit ihrer Geburt auf dem Hof sei, die Revolution, die bolschewistische Kollektivierung, den Holodomor unter Stalin und den 2. Weltkrieg überlebt habe. Jetzt, als alte Frau, werde sie sicher nicht vor etwas, das sie nicht einmal sehen könne, weggehen. Der Soldat zieht sie weg und erschießt die Kuh.

Ein junger Soldat muss gemeinsam mit zwei Afghanistan-Veteranen alle Tiere, die sich in der Sperrzone befinden und kontaminiert sind, erschießen. Sie durchkämmen die verlassene Stadt und knallen auf jeden Hund und jede Katze, die ihnen vor die Flinte kommen. In einer Wohnung sieht er eine Hündin mit drei Welpen. Er kann nicht schießen und geht hinaus.

In einer der letzten Szenen des Films konfrontiert der Vizedirektor des Geheimdienstes Legassow mit seiner eigenen Biografie. Er erinnert ihn daran, dass er sich im Atominstitut nach dem Krieg gegen die Beförderung jüdischer Wissenschaftler ausgesprochen habe, um sich »uns anzubiedern«, und offenbart ihm, dass seine Aussage im Prozess – Legassow erwähnte auch die technischen Mängel, die zur Explosion geführt haben – nicht zugelassen werde, »es hat sie nicht gegeben!«. Erst nach Legassows Selbstmord sind die anderen Reaktoren vergleichbaren Typs in der Sowjetunion nachgerüstet worden.

Den wenigen Wissenschaftlern und Parteifunktionären, die trotz allem an Fakten sich orientierten und gegen alle Widerstände standhaft geblieben sind (Folge von Gorbatschows ein Jahr zuvor ausgerufener »Glasnost«?), und den Feuerwehrmännern und Bergarbeitern, die sich aufgeopfert haben, um noch weitaus Schlimmeres zu verhindern, wird mit dieser Miniserie ein bleibendes filmisches Denkmal gesetzt. Dass ein derartiger »katastrophaler Unfall«, wie die Kernschmelze im Fachjargon der Atombehörden bezeichnet wird, kein singuläres Ereignis blieb, hat uns die Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahre 2011 vor Augen geführt. In Japan gab es vor der Katastrophe genügend Warnungen vor den Risiken des verwendeten Reaktortyps, ebenso Hinweise auf Konstruktionsmängel der Anlage, sowie unzureichenden Schutz vor Erdbeben und Tsunamis, von fehlenden Kontrollen gar nicht zu reden. Die Betreiberfirma Tepco und die japanischen Atomaufsichtsbehörden wiegelten ab und ignorierten die meisten Hinweise – ein sehr »sowjetisches« Verhalten.

In seinem Essay Entbergung und Konstruktion, in dem er sich mit den Potentialen der Kunst in der modernen, rationalisierten Welt beschäftigt, bringt der Philosoph Rudolf Burger luzide zum Ausdruck, dass die »Wahrheit einer falschen Welt« nicht mehr in der Kunst erhellt wird, sondern nur noch in der technischen Katastrophe, im Scheitern des technischen Experiments. Ausgehend von der Explosion der Challenger-Raumfähre schreibt er folgende Sätze:

»Die wahre Katastrophe ist das Gelingen des Programms, nicht der Absturz von ein paar Astronauten, der jenes zumindest ein bisschen bremste. (…) Wenn die Welt als solche zum technischen Fall zu werden droht, zum sogenannten Ernstfall, als ob sie jetzt heiter wäre, dann zuckt eine perverse Schönheit im Un-Fall auf, der den logischen Gang der Dinge unterbricht. (…) Ist er vorbei, so geht die Geschichte weiter, in ihrem gewohnt-gewöhnlichen Trott. Und doch leuchtet in ihm so etwas wie Wahrheit auf: die Wahrheit einer falschen Welt. (…) Und das Erhabene der Natur, vor dem die Menschen erschauern, weil es gerade noch verschmäht, sie zu zermalmen, ist in Zeiten der Postmoderne nicht mehr wie im Jahrhundert Kants der Eisberg oder die unendliche Wüste, das aufgewühlte Meer oder das Gebirge im Gewitter: es ist Tschernobyl.«


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